Myotone Dystrophie

Eine Broschüre der Schweizerischen Muskelgesellschaft

Copyright 3. Auflage (08/2011)
Herzlichen Dank der Deutschen Gesellschaft für Muskelkranke e.V. für die Kooperation und Dr. med. Andrea Klein für die wissenschaftliche Überarbeitung.

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Was ist Myotone Dystrophie?

Die Myotone Dystrophie ist eine Form von Muskeldystrophie, eine Untergruppe der Muskelkrankheiten. Sie ist die häufigste Muskelkrankheit bei Erwachsenen. Die ersten Symptome treten meist im Jugend- oder frühen Erwachsenenalter auf. Nach ihren Erstbeschreibern wird sie auch Steinert’sche oder Curschmann- Steinert’sche Krankheit (Curschmann-Steinert und PROMM) genannt. Wie die anderen Muskeldystrophien ist sie erblich.
Von den übrigen Muskeldystrophien kann sie dadurch abgegrenzt werden, dass die PatientInnen nach einer Muskelkontraktion eine verzögerte Muskelerschlaffung zeigen. Dieses Phänomen wird als „Myotonie“ bezeichnet. Ausserdem besteht ein charakteristisches Verteilungsmuster des Muskelschwundes, dass von vielen Dystrophien abweicht: Die zuerst und am häufigsten befallenen Muskeln sind die des Gesichts, des Halses, der Unterarme, der Hände, der Unterschenkel und der Füsse. Eine Besonderheit dieser Krankheit besteht darin, dass eine Vielzahl von weiteren Störungen unabhängig vom Muskel vorkommen (grauer Star, Hormonstörungen, Erkrankungen des Herzens, Störungen beim Sprechen und Schlucken, Verdauungsstörungen, Hörstörungen, gehäuft Gallensteine und anderes).

Symptome

Etwa die Hälfte der PatientInnen zeigt erkennbare Zeichen der Erkrankung bis zum zwanzigsten Lebensjahr. Diese Zahl erhöht sich, wenn nach dem Krankheitsbild intensiv gesucht wird, zum Beispiel dann, wenn ein anderes Mitglied der Familie erkrankt ist. Bei der kleinen Gruppe der PatientInnen mit Kongenitaler Myotoner Dystrophie sind die Symptome schon im Säuglingsalter erkennbar. Bei einer beachtlichen Zahl von Patientinnen wird die Erkrankung aber erst im höheren Lebensalter erkennbar, wobei nicht selten die Diagnose eines grauen Stars (Linsentrübung) ersten Anstoss zu weiteren klärenden Untersuchungen gibt.

Die Erkrankung verläuft sowohl bei den einzelnen Betroffenen innerhalb der Familie als auch von Familie zu Familie sehr unterschiedlich. Es gibt PatientInnen, bei denen bis ins hohe Alter keine wesentlichen Beeinträchtigungen bestehen, und solche, bei denen schon in jungen Jahren eine beträchtliche Behinderung eintritt. Sie ist dann ganz vorwiegend durch die Muskelschwäche als Folge des Muskelschwundes bedingt. Nur selten ist die Schwäche in den Beinen so ausgeprägt, dass ein Rollstuhl erforderlich wird.

Wie bei den meisten Muskelkrankheiten wird die Lebensqualität der PatientInnen vorwiegend durch ihren Allgemeinzustand bestimmt. Dieser ist nicht nur durch den Muskelschwund beeinträchtigt, sondern in manchen Fällen auch durch die Einschränkung der intellektuellen und psychischen Funktionen, zum Beispiel eine Minderung des Antriebs. Mit der Myotonie, die besonders beim Öffnen der Hand nach einem Faustschluss stört, werden die PatientInnen meistens gut fertig, wenn sie nicht dadurch in ihrer Berufsausübung behindert werden. Beiden meisten PatientInnen schreitet die Erkrankung erfreulicherweise nur langsam voran.

Als Regel, wenn auch nicht ohne Ausnahme, gilt: Je älter jemand beim Auffälligwerden des Muskelschwundes ist, desto langsamer ist das Fortschreiten der Krankheit. Das Ausmass, das die Erkrankung annehmen wird, ist also deutlich abhängig vom Alter, in dem die ersten Zeichen von Muskelschwäche festgestellt werden. Die Myotone Dystrophie führt bei der Mehrzahl der PatientInnen – meist erst im höheren Alter – zu einer beidseitigen Linsentrübung (grauer Star oder Katarakt), wodurch die Sehfähigkeit stark eingeschränkt werden kann. Die Implantation künstlicher Linsen stellt die Sehkraft wieder her.

Formen

Es gibt nicht viele Unterformen der Myotonen Dystrophie. Der Zusatz „kongenital“ bei der kongenitalen Myotonen Dystrophie sagt aus, dass die Krankheit schon bei der Geburt erkennbar ist. Die Symptomatik dieser schweren Krankheitsform unterscheidet sich von der später auftretenden Form dadurch, dass bei ihr die Myotonie bis mindestens ins Schulalter fehlt. Ein Bewegungsmangel schon während der Schwangerschaft führt häufig zu Fussfehlstellungen oder Hüftproblemen, die Kinder müssen häufig wegen einer Beckenendlage per Kaiserschnitt zur Welt gebracht werden, sind bei Geburt sehr schwach und haben Atem- und Schluckschwierigkeiten. Die motorische Entwicklung ist stark verzögert. Im Verlauf bessert sich die Muskelkraft und verschlechtert sich erst wieder im jungen Erwachsenenalter. Die kognitive Entwicklung und Sprachentwicklung kann zum Teil erheblich beeinträchtigt sein. Vererbt wird diese Form praktisch immer durch die Mutter, da bei einem betroffenen Mann die Spermien mit der Genveränderung meist nicht funktionstüchtig sind.

Zudem gibt es neben der häufig vorkommenden Myotonen Dystrophie Steinert oder Typ 1 noch die Form der proximalen Myotonen Myopathie (PROMM) oder Typ 2, die praktisch nur im Erwachsenenalter auftritt. Sie macht weniger myotone Symptome, eher Beckengürtelmuskeln und Hände, weniger stark das Gesicht betrifft und zu Muskelschmerzen führen kann.

Vererbung

Die genetische Ursache der Myotonen Dystrophie Steinert Typ 1 besteht in einer Vervielfältigung eines aus drei Genbausteinen (Basen) bestehenden Bereichs, des so genannten DM-Gens auf Chromosom 19. Bei der Vererbung der Genveränderung an die nachfolgende Generation kommt es zu einer weiteren Zunahme der Vervielfältigung und damit zur oben genannten Zunahme der Schwere des Krankheitsbildes. Jeder Mensch besitzt 23 Chromosomenpaare, von denen er je einen Satz von Vater und Mutter geerbt hat. Die Chromosomen sind aufgebaut aus Genen, den Trägern der genetischen Information. Ist das DM Gen auf Chromosom 19 mutiert (das heisst verändert), verursacht dies die Myotone Dystrophie. Wenn der betroffene Elternteil das mutierte Gen weitervererbt, erkrankt der Nachkomme, auch wenn das zweite, vom anderen Elternteil ererbte Gen unverändert ist. Diese Form der Krankheitsübertragung wird autosomal dominante Vererbung genannt. Vererbt der betroffene Elternteil jedoch das andere, unveränderte Gen, tritt bei Kind und Kindeskindern die Krankheit nicht mehr auf. Das Risiko, die Krankheit von einem betroffenen Elternteil zu erben, beträgt demnach 50 Prozent.

Typisch für die Myotone Dystrophie Steinert ist eine Zunahme der Schwere des Krankheitsbildes und ein früherer Beginn der Krankheit in den nachfolgenden Generationen. Der seltenere Typ 2, PROMM, ist verursacht durch eine Genveränderung auf dem Chromosom 3 und es besteht kaum eine Zunahme der Symptome von Generation zu Generation.

Diagnosestellung

Durch eine Untersuchung in der Sprechstunde kann die Diagnose gestellt werden, wenn das typische Verteilungsmuster der Muskelverminderungen und der Muskelschwäche vorliegt und die Myotonie festzustellen ist. Häufig weckt ein besonderes Aussehen, bedingt durch Schwund und Schwäche der Gesichtsmuskulatur, den ersten Verdacht.

Dieser kann mit Hilfe des Elektromyogramms (EMG) bestätigt werden. Nicht selten kommt es vor, dass die PatientInnen wegen der Beschwerden, die die Myotone Dystrophie begleiten, zuerst eine Fachperson aufsuchen (AugenärztInnen, Hals-Nasen-Ohren-ÄrztInnen, Herz-oder Magen-Darm-SpezialistInnen). Der Nachweis der Genveränderung ist für die Myotone Dystrophie beweisend. Dieser direkte Gentest ist möglich, auch schon vor dem Auftreten von Krankheitszeichen. Die Untersuchung kann an einer Blutprobe erfolgen. Der Ausschluss der krankheitsspezifischen Genveränderung spricht eindeutig gegen die Diagnose Myotone Dystrophie, lässt aber die Möglichkeit der proximalen Myotonen Myopathie (PROMM) offen, welche ebenfalls im Blut gesucht werden kann.

Therapeutische Massnahmen

Eine medikamentöse Behandlung des Muskelschwundes ist bisher nicht möglich. Physiotherapie und orthopädische Massnahmen sind die Möglichkeiten der Behandlung mit dem Ziel, die Behinderung zu mildern. So kann zum Beispiel ein durch eine Fussheberschwäche bedingter Fallfuss durch Schuhe mit hohem Schaft oder eine spezielle Einlage, eine so genannte Peronäusfeder, versorgt werden.

Herz-Rhythmusstörungen können im Rahmen der Myotonen Dystrophie vorkommen. Deshalb sind regelmässige EKG-Untersuchungen zu empfehlen und allenfalls zusätzliche Langzeit-EKG und Belastungs-EKG. Manchmal wird ein Herzschrittmacher erforderlich. Eine fortgeschrittene Linsentrübung kann durch Implantation künstlicher Linsen in Lokalanästhesie beseitigt werden. Es besteht ein erhöhtes Risiko eine Zuckerkrankheit (Diabetes mellitus) zu entwickeln, was regelmässig kontrolliert werden sollte.

Bei Vollnarkosen besteht die Gefahr von Reizleitungsstörungen am Herzen und Überreaktionen auf bestimmte Medikamente. Die Ärztin, der Arzt sollte wissen, dass depolarisierende Relaxantien nicht benützt werden dürfen, da sie schwere myotone Zustände auslösen können. Neostigmin sollte nicht zur Beseitigung der Muskelentspannung am Ende einer Narkose verwendet werden. Obwohl keine sicheren Hinweise auf Häufung von maligner Hyperthermie (schwer kontrollierbare Überhitzung des Körpers während der Narkose) bei der Myotonen Dystrophie bestehen, wird zur Vorsicht geraten. Es wird empfohlen, dass die PatientInnen einen Notfallpass mit sich führen und vorallem den Anästhesisten über ihre Grunderkrankung informieren (weitere Informationen hierzu erhalten Sie bei der Muskelgesellschaft).

Soziale Betreuung der PatientInnen

Die Berufsberatung sollte schon vor Beginn einer Ausbildung die Besonderheiten der Krankheit berücksichtigen können, da bestmögliche Berufswahl vor der Ausbildung einer späteren Umschulung überlegen ist. Das vorzeitige Ausscheiden aus dem Berufsleben aufgrund falscher Berufswahl hat beachtliche negative Auswirkungen. Besteht der Verdacht, dass ein Familienmitglied betroffen ist, sollte es deshalb möglichst früh untersucht werden.

Stand der Forschung (2011)

Seit die Genveränderung bekannt ist, hat sich die Forschung auf die Untersuchung der dadurch ausgelösten Veränderungen konzentriert. Inzwischen ist bekannt, dass das veränderte, verlängerte Gen nicht ein Eiweiss produziert, was in der Funktion gestört ist, sondern, dass die Anhäufung der durch das verlängerte Gen produzierten RNA (Zwischenprodukt, zwischen Gen und Eiweiss) die Funktion benachbarter Gene stört und toxisch auf die Zelle wirkt. Diese Kenntnisse sind für die Entwicklung einer spezifischen Therapie erforderlich.